In der Erziehung adliger und bürgerlicher Mädchen zur Gattin, Hausfrau und Mutter spielten textile Fertigkeiten eine große Rolle. Neben nötigen weiblichen Handarbeiten wie Spinnen, Stricken und Nähen, stand die Beschäftigung mit "feinen" Handarbeiten im Mittelpunkt und gehörte bei Frauen aus dem Bürgertum seit dem späten 18. Jahrhundert zur beliebten Freizeitbeschäftigung. Für Frauen aus den unteren Bevölkerungsschichten war das Erlernen textiler Techniken gleichzeitig eine Grundvoraussetzung für ihr Arbeitsleben. Alle grundlegenden Kenntnisse erwarben Mädchen und Frauen von weiblichen Familienmitgliedern und im schulischen Handarbeitsunterricht. Stickmustertücher, Übungs- und andere Mustertücher geben darüber Auskunft. Stickmustertücher waren seit dem 18. Jahrhundert Sammel- und Merktücher für Muster und Techniken. Frauen und Mädchen "notierten" diese mit Nadel und Faden auf Leinen, Seide oder Baumwolle, um später mit den entspragesammelten Motiven die Aussteuer zu besticken. Da gedruckte Vorlagen teuer und noch wenig verbreitet waren, bedeuteten Mustertücher etwas Kostbares. Meist wurden sie innerhalb der Familie weitergegeben. In lichtgeschützten Behältnissen aufbewahrt, blieben die Farben der empfindlichen Garne recht gut erhalten. Die gestickten Motive gleichen damals üblichen Dekoren auf Gläsern, Möbeln und vielerlei Hausrat: Blumen und Pflanzen, Liebessymbole und biblische Szenen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde im Schulunterricht diese Tradition als ABC-Tücher fortgesetzt. Gedruckte, preisgünstige Stickvorlagenhefte und -bücher machten die alte Form überflüssig. Gelehrt wurden nun nützlichere Techniken wie Stopfen, Flicken, Knopflochnähen oder Monogrammsticken. Sie boten vor allem ärmeren Mädchen die Möglichkeit, später als Dienstmädchen, Fabrik- oder Heimarbeiterin damit Geld zu verdienen.
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